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Vortrag "Das dokumentarische Element in der Kunst"

Veröffentlicht am 02.04.2023

Anlässlich der  Ausstellung "Es war einmal in China"   5.3. - 2.4.23

Ja, warum das Dokumentarische überhaupt thematisieren? Wir befinden uns doch hier in einer Fotoausstellung nicht digital bearbeiteter Bilder. Ja, man könnte ja sagen: Fotos dokumentieren immer Wirklichkeit, sind per se Dokumente der Realität, selbst wenn diese eine gestellte ist - was gibt es da zu überlegen?

Fotografie als Gesellschafts-, Kultur-  und  - immer retrospektiv - auch als Zeitdokument steht grundsätzlich nicht in Frage. Es ist aber bei der ganzen Sache offensichtlich kein unwesentlicher Aspekt, dass wir uns hier in einem Kunstraum befinden.; zum anderen ist da die Spannung zwischen unmittelbarer Realitätswiedergabe und bewusst konstruierter Ästhetik im einzelnen Bild selbst.

Zunächst sind zwei Dinge zu betrachten: Der Begriff des Dokuments an sich und in der Fotografie im Besonderen. Ein Dokument ist ein Beweisstück, das für eine faktische bzw. historische Tatsache bürgt. Dokumente können als Text bzw. Schriftstück auf dem Papier, als Gegenstand in Archiven oder als Produkt technisch aufgezeichneter Wirklichkeit in Fotografie und Filmen daher kommen.

Fotografie als Gesellschafts-, Kultur- , und  - immer retrospektiv - auch als Zeitdokument steht grundsätzlich nicht in Frage. Es ist aber bei der ganzen Sache offensichtlich kein unwesentlicher Aspekt, dass wir uns hier in einem Kunstraum befinden.

 

In der Fotografie etablierte sich der Begriff "Dokumentarfotografie" in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Von den Anfängen der Fotografie bis dahin war es eher selbstverständlich, dass eine fotgrafische Abbildung Dokument der Realität ist. Man machte keine Unterscheidung bzw. keine eigene Kategorie auf. Mit neuen technischen Entwicklungen (und somit auch mobileren, schnelleren Möglichkeiten der fotografischen Erfassung der Wirklichkeit) verfeinerten sich die gestalterischen Möglichkeiten und das Instrumentarium für die Außenfotografie und Reportage. Drängende wirtschaftliche Notlagen, prekäre Wohn-, Lebens- und Arbeitssituationen sowie das Auseinanderklaffen gesellschaftlicher Schichten schärften in den 20er Jahren den Blick für die Funktion des Fotos als Instrument der Dokumentation von Lebenswirklichkeiten.

 

 

Seit den 20er und 30er Jahren, (angefangen von den eben genannten sozialdemokratisch geprägten Dokumentarfotografien) hat die aufklärerisch-ethnografische Reisedokumentation in Magazinen und Zeitschriften einen festen Platz. Die Fotoreportage machte es möglich, den Menschen entfernteste Kulturen und Gegenden der Welt nahe zu bringen (im wahrsten Sinne des Wortes).

Zugleich entwickelte sich in der Kunst selbst ein dokumentarischer Stil in Abgrenzung zum wissenschaftlichen Dokument: Fotografie wurde ein Medium zur Erfassung von Subkulturen und Protest in Ost und West.

Dokumentarisches Fotomaterial floss fortan schließlich im Zuge eines

kapitalismuskritischen Realismus als nur ein Mittel von vielen und oft in enger Verbindung mit Texten und Materialien oder Gegenständen in kritische Weltbetrachtungen ein. (Zu nennen wären hier Künstler wie Christian Boltanski, Jochen Gerz oder Michael Badura). Die visualistisch-ästhetische Ebene wurde hier bewusst negiert, in Fotoreihen Themenbereiche wie Umweltsünden quasi-archivarisch erfasst. Bekannt wurde diese Kunst auch unter dem Begriff der "Spurensicherung". Interessant in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die unmittelbare Erlebniswelt und unmittelbare visuelle Erfahrungen mittels pseudowissenschaftlicher Archive zur Grundlage allgemeiner Äußerungen gemacht werden. Fotografie ist aber letztlich immer genau das: ein Zusammentreffen von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wirklichkeit. Bevor wir uns diese Frage im Bezug auf die Ausstellung näher ansehen, möchte ich den historischen Abriss kurz vervollständigen mit einem Blick auf die Gegenwart. Die Mitte der 90er wird immer so ein bißchen als Wende zu einem neuen Blick der Kunst auf die Welt angesehen. Die Postmoderne hat im Laufe der 80er bis in die 90er Jahre optisch zwar scheinbar mehr Konsum- und "Spaßgesellschaft" gehuldigt und stilistisch eine Verkünstlerung der unbeholfenen Alltagsgeste des Polaroids betrieben oder der Öffnung der Kunst für einen medial gegebenen Fundus an Gebrauchsforografie den Weg bereitet, hat aber auch und vor allem in der Analyse von Gleichzeitigkeit, Diskursivität und Unverbindlichkeit von Wahrheiten sowie der vielzitierten "political correctness" diskursiv und philosophisch dem neuen Dokumentarismus der Gegenwart kritisch den Boden bereitet. Die angloamerikanisch-europäische Brille der Kunstwissenschaft wurde endgültig ad acta gelegt und einer neuen ethnografischen Gewissenhaftigkeit der Weg breitet. Das hatte zur Folge, dass das Dokumentarische einmal mehr, wenn auch behutsamer und subtiler als in den 60er und 70er jahren, politisiert wurde.

Doch das Dokumentarische ist mehr als scheinbar unkommentiert offenlegende, subtil tendenziöse Gesinnungskunst, die sicher wichtig ist. Aber In unserer heutigen Welt, in der wir im Alltag Bilder und Youtube-Filme naiv und selbstverständlich allein aufgrund der Technik als "aufgezeichnete Realität" hinnehmen und nicht hinterfragen, ist es umso wichtiger, ein paar Schritte zurückzutreten. Dies kann meiner Meinung nach die Kunst leisten.

Die Kunst öffnet Räume, in denen wir quasi unter reduzierten Bedingungen wieder Sehen lernen: im wahrsten Sinne Bildern mit unserem vollständigen Selbst, mit Körper und Geist gleichermaßen gegenübertreten können.

Hier sind wir beim Kontext angelangt. Der Titel dieser Ausstellung "Es war einmal in China" verweist zum einen darauf, dass es sich wohl um ein zeitlich zurückliegendes Geschehen handelt, aufgenommen mit einer analogen Kamera.

Als Ort wird China angegeben. Im Eingangsbereich wird dies weiter geografisch konkrettisert. Wir haben also einen Ort und erfahren auch eine Zeit, 1994. Das Zeitadverb "einmal" in "Es war einmal" verdeutlicht, dass die Fotos Dokumente einer einzigen Reise sind, oder man könnte sagen, dass sie diese Reise dokumentieren. Zugleich verweist dieses "Es war einmal" auf einen narrativen Kontext. Es ist insofern eine quasi-anekdotische Erzählung von einer Reise, als die Ausstellung keine wissenschaftiche Einführung in ein Thema liefert und auch nicht auf irgendeine Form von Vollständigkeit bei der Erfassung irgendeines Lebensbereichs oder Themas abzielt. Die Bilder hängen unkommentiert, sprechen, wie man so schön sagt, "für sich".

Die Reise ist für uns eine Bewegung im Raum. Die visuellen Ein-. und Ausdrücke sind Ausschnitte aus einem vielschichtigen, aber doch in einem Kontext für eine begrenzte Dauer einheitlichen Erlebnis im Aufmerksamkeitsmodus der entspannten Wahrnehmung, die durch die Einstellung des Fotografen zur Umgebung zugleich auch permanente Motivsuche ist. Zerstreutes und gerichtetes Sehen - diese beiden Modi durchkreuzen sich permanent. Zugleich ist die Ausstellung eine Spurensuche und Rekonstruktion. Retrospektiv wird aus einem größeren Material gesichtet und selektiert. Nachdem der Fotograf zuvor aus der Wirklichkeit selektiert hat, wählt er nun 30 Jahre später aus seinem Fundus und nimmt die Fotos als Gedächtnisstützen für die Rekonstruktion der eigenen Reise, und umgekehrt dienen Erinnerungen an zeitliche Abfolgen als Möglichkeiten der Zuordnungen zu bzw. Einordnungen von Bildern in die Wirklichkeit. Hier decken sich Funktion von Alltagsfotografie und künstlerische Fotografie. Als Dokument einer Reise sind die Fotos nur ein Mittel von vielen, sie hätten theoretisch durch Tagebuchaufzeichnungen, Landkarten, Fährentickets usw. untermauert werden können.

Was ich bei meinem kurzen Abriss zuvor weitgehend außer Acht gelassen habe, ist, dass sich die Diskussion um das Dokumentarische häufig in Abgrenzung vom Fiktionalen einerseits (für unsere Betrachtung nicht so relevant) und dem Formal-Ästhetisch-Visualistischen oder Symbolischen andererseits vollzieht, was sich insbesondere für den bereich der Straßen- und Reisefotografie als künstliche Grenzziehung erweist, die nicht zielführend ist. Abgesehen von der Analogie oder Gleichsetzung zwischen Gegenstand und Abbild ist für jede noch so spontan aufgenommene Fotografie das Wie entscheidend- wie sie auch für jede subjektive Wahrnehmung der Welt durch ein menschliches Subjekt entscheidend ist. Wir nehmen die Welt zugleich als Gegenstand und Stimmung wahr. Die gestalterischen Mittel des Fotografen, von Bildausschnitt, Anschnitt von Gegenständen, Tiefenschärfe, Flächenverhältnissen oder Lichtregie sind die Folge einer ebensolchen Selektion, um subjektiv wahrgenommene Realität adäquat zu dokumentieren. Wir nehmen dabei als Betrachter unbewusst oder bewusst Unterschiede wahr: Abstrakte Flächenhintergründe oder extremes Helldunkel empfinden wir als wahlweise sublimer oder intimer als einen Ausschnitt aus einer größeren Menschenmenge, zufällige Gesten oder ins Bild huschende Zufälle. Aber genaus so nehmen wir die Welt wahr. Der Fotograf verdeutlicht kontemplative Momente und fixiert aufzeichnendes Sehen mit seinen jeweils adäquaten Mitteln. Ob die eine oder andere Aufnahme mehr technisches Können fordert, mit mehr Mitteln oder weniger erzeugt wurde, ob die Wirkung poetisch, lustig, oder melancholisch ist, ist kein Kriterium für das Dokumetarische - wohl aber, dass der Blick dauerhaft Besitz ergreift von einem flüchtigen Gegenstand und dass die fotografische Welt naturgemäß zeitgeschichtlich immer eine Welt nach der Malerei ist; d.h. zu wissen, wie wir Fotos gemacht hätten ohne jede Kenntnis über das klassische gemalte Tableaux als Fenster zur Welt, ist uns nicht möglich...

Eine weitere Überschneidung zwischen Kunst und Alltagsfotografie ist die Tatsache, dass beide zwangsläufig zum Zeitdokument werden (man sieht auf den hier gezeigten Fotos niemals Menschen mit Mobiltelefonen in der Hand, und Männer, lesend vor der "Wandausgabe" einer Tageszeitung stehend, könnten wir uns zur gleichen Zeit auch noch bei uns in Deutschland vorstellen.).

Die erste Berührung mit der Ausstellung findet im Schaufensterbereich statt. Eine Ausstellung präsentiert einzelne Bilder, die für sich stehen können. Wir sehen diese aber nicht in einem quasi banalisiert faktischen, auf eine separierte Bildinformation reduzierenden Bildschirm, sondern wir werden durch eine bewusst arrangierte Anordnung im Raum geführt. Bilder werden in Gruppen angeordnet, die übergeordnete Botschaften als Teilbereiche der Ausstellung senden können. Im Schaufenster hängen vier größere Einzelbilder, die zu gleichen Teilen ein Quadrat bilden. Wir sehen ein Panorama, das Informationen über eine Gegend, eine Landschaft liefert und formal im Bild kleine Menschen zeigt - ein Bild, das wir als Überblick und geeigneten Einstieg abspeichern. Wir sehen auch eine Häufung blauer Arbeitsjacken, wir sehen Friseure, die unserer Lebenswirklichkeit fern im Freien agieren. Die Art der Betrachtung und Erschließung von Bilddokumenten unterliegt immer der jeweiligen Lebenswirklichkeit, dem Wissen, der Kenntnis und den eigenen Erfahrungen des Betrachters sowie der zeitlichen und räumlichen Distanz. Die Kunst belässt diese Spielräume nicht selten offen und nimmt die Vervollständigung des Eindrucks durch das aktive Subjekt des Betrachtens ernst. Direkt neben dem oben erwähnten "Panoramabild" steht das Foto zweier junger Männer; die charakteristische Landschaft verbindet beide Motive. Ein Mann trägt eine Uniform, der andere nicht (man könnte das mit dem Wissen verbinden, dass Militär in anderen Ländern, so auch in China, präsenter ist als bei uns). Über die Beziehung der jungen Männer, ob sie verwandt sind etwa, wissen wir nichts. Einerseits sehen wir eine eingefrorene spontane menschliche Geste, die aber zugleich erst durch den Fotografen bzw. die fotografische Situation erzeugt wurde - eine spielerische Geste, die das fotografiert-werden betont. Dieses lebendige Element, das durch das überzeitliche, allgemein-menschliche an uns herantritt, ist eine Art stummer Dialog, der als flüchtiger Moment durch das Format anekdotische Größe erlangt: Die Begegnung zwischen Subjekten aus unterschiedlichen Orten der Welt an einem Ort in der Welt, die nie wieder etwas miteinander geteilt haben. Wir Menschen suchen gerne im aus dem Leben gegriffenen das übergeordnete Symbol, weil wir im Leben nach Bedeutung suchen.

Das Fahrrad verdeutlicht den Unterschied zwischen Dokomentation und Dokument , zwischen Beweis aus sich selbst und Stellvertreterfunktion. Keine Fotografie sondern ein Gegenstand, hat es keine zwangsläufige Berechtigung in der Ausstellung, will uns also auf eine Art andere Art etwas mitteilen. Ebenso verhält es sich mit den herunterhängenden, größtenteils mit Schrift versehenen Papiersteifen. Texte stellen überwiegend vorgefundenes Material vor - Auszüge aus Reiseführern stehen neben Zitaten über das Reisen, Texte mit populärwissenschaftlichem Anspruch mischen sich mit Werbetexten aus touristischen Hochglanzbroschüren. Im Zeitraffer wird eine Brücke von 1994 bis heute geschlagen.

Diese collageartige Zusammenführung bricht das rein dokumentarische Prinzip spielerisch . (...) Doch zurück zu den Bildern.

Der Fotograf als der Welt gegenüberstehendes Subjekt outet sich als nostalgisch/romantisch. Der Einblick in ursprüngliches Leben in einer diversen Welt, in der spezifische Lebensräume und Lebensarten nicht durch permanente moderne Überlastung der technischen Möglichkeiten beherrscht sind, wird besonders deutlich transportiert über die Eindrücke vom Marktgeschehen in Dali. Hier sehen wir den Aspekt des bei-sich-seins einer geografischen Gemeinschaft, in der Bräuche und Stile, wie etwa in Architektur und Kleidung, nicht durch den globalen, allgegenwärtigen Anpassungsdruck verschwunden sind. Auf der Ebene der künstlerischen Dokumentarfotografie erscheint der visuelle Eindruck der Trachten als hervorgehoben, aber die Menschen bekommen immer weder ein Gesicht. Nahaufnahmen lassen das individuelle Erscheinungsbild als eine sehr unmittelbare menschliche Autorität erstehen: Durch Die Nähe zum Fotografen wie zum Betrachter werden Menschen zum Objekt, aber ergreifen durch den direkten Blick zurück zum Betrachter auch Besitz von uns.

Darin liegt eine Wahrheit, die diese Ausstellung deutlich macht: "Fotografieren  heißt sich das fotografierte Objekt anzueignen. Es heißt sich in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis - und deshalb wie Macht anmutet. "**.

Darin liegt auch eine Verantwortung. Und Bilder in einem Raum öffentlich zugänglich und sichtbar zu zeigen, ist etwas anderes, als sie ins Netz zu stellen.

Dies verdeutlicht meiner Meinung nach die Frage nach der Relevanz einer solchen Ausstellung in der heutigen Zeit, und den wichtigen Kontext der Kunst. Es ist eine fruchtbare Wechselbeziehung: Ja, für vieles in der Kunst könnte man sich einen anderen Kontext außerhalb der Schutzzone "Kunstraum" vorstellen. Zugleich ist das Dokumentieren von Wirklichkeiten -in welcher Form auch immer - eine Bereicherung für eine Kunst, die ihre Relevanz in der Welt immer aufs Neue beweisen muss.